Ist da jemand? (Adel Tawil)
Woche sechs
Montag
Alles fängt von vorne an. Fenster putzen, durchwischen, Ecken aufräumen, neue Hausaufgaben. Wie naiv ich war, und dachte am 20. April läuft die Welt wieder ganz normal. Schule, Einkaufen, Freunde treffen… Pustekuchen. Es werden die Maßnahmen nur gelockert. Mist. Anständig bleibt der deutsche Bürger auf Abstand. Nur mit der Familie. Ohne andere Kontakte. Wir bleiben häuslich. Punkt. Keine Bewertung. Vielleicht eine Träne – oder zwei.
Dienstag
Oma hat schon immer gesagt: Bis zum 1. Mai ist der Kiekenstein grün. Sie hat recht. Es ist April und bis auf einige wenige braune Flecken grünt und blüht es überall. Sehr schön. Auch in unserem Garten gibt es neue Mitbewohner. Da die diversen Vogelhäuser keinen Einzug von Meise, Spatz und Co. erleben durften (Neubau vielleicht zu schick?), wird emsig an Insektenhotels gearbeitet. Ich mag Tiere. Im Fernsehen oder auch auf Bildern. Aber in meiner direkten Nähe? Holzklötze mit Löchern in Formation des Lieblingsfußballvereins anzubringen, direkt über meinem Kopf? Für mich optisch kein Hingucker und ein emotionaler Stresstest. Ich werde belächelt. Die Tiere scheinen meine bessere Hälfte zu unterstützen. Sie besuchen das neue Quartier fleißig und von der Abstandsregelung scheinen die nichts gehört zu haben. Es bilden sich fast Schlangen vor dem Buchstaben F und C. Frechheit.
Mittwoch
Heute bin ich sauer. Ungenießbar. Ich finde alles unfair. Alles. Das die Strecke von Höxter nach Stahle gesperrt ist, zum Beispiel. Und das die Lüchtringer eher grün kriegen. Ich habe noch nicht die Zeit gestoppt, bin mir aber sicher, dass die auch länger grün haben. Das ist doch wirklich unfair. Ich soll außerdem die Matheaufgaben meines Sohnes kontrollieren. Hallo, ich habe keine Ahnung was Potenzrechnung ist. Potenz berechnen, ja gut aber nicht in Mathe. Und dann auch noch im Minusbereich. Geht das überhaupt negative Potenz? Uuuaahhhh. Hoffentlich geht der Tag schnell rum. Auch der Spiegel zeigt mit unfaire Falten. Jetzt werde ich auch noch alt. Und wer ist schuld? Alle. Ab ins Bett mit Antifalten Maske und einer wütenden Potenz.
Donnerstag
Ich habe mich beruhigt. Abreagiert beim Bügeln und Betten beziehen. Ab nächste Woche sollen Mundschütze (ist das wirklich die Mehrzahl?) beim Einkaufen getragen werden. Fleißig wird aus noch vorhandenen Stoffresten und Schlüpfergummi mit der heimischen Nähmaschine genäht. Anleitungen für verschiedene Modelle gibt es im Netz. Irgendwie komisch Menschen mit Mundschutz zu sehen. Da der komplette untere Gesichtsbereich verdeckt ist, sind auch Emotionen kaum sichtbar. Ich stülpe mir meine Maske über und übe. Augenlächeln, Augenwut, Augenerstaunung. Ich mag neue Wörter. Vielleicht nähe ich mir aber auch Emotionsmasken. Eine die lacht, eine mit Kussmund, eine die schreit. Je nach Tagesform tragbar.
Freitag
Wochenende. Mir egal. Mit der Potenz bin ich/ wir nicht weitergekommen. Mir egal. Die Fenster sind schon wieder gelb. Mir egal. Der Mundschutz trägt heute Gleichgültigkeit.
Samstag
Bekomme Post von lieben Freunden. Das macht mich glücklich. Vielleicht zoomen wir heute nochmal. Über verschiedene Anbieter können wir gemeinsam sprechen und uns sogar sehen. Ich bin schon ganz aufgeregt und überlege was ich anziehen soll. Lege eine Flasche Wein kalt und warte auf den Host. Da höre ich schon die erste Stimme:“ Ist da jemand, ist da jemand? „Ich klatsche vor Freude. Ich bin nicht allein. Jemand ist da.
Sonntag
Also im Umkreis von zehn Kilometer haben wir bald alle Wanderwege besucht. Kiekenstein, Köterberg, Hasselbachtal…Die Twierquelle hatte ich mir allerdings idyllischer vorgestellt. Keine plätschernde Quelle aus dem Berg mit Schmetterlinge und unberührter Natur, nee, sehr unspektakulär. Das hatte ich anders in Erinnerung. Schade. Mit der Weserbergland App (kann ich nur empfehlen) planen wir weitere Routen. Es scheint ja doch noch länger zu gehen. Sehr schade.
Liebe Grüße
KK